Handlungsleitfaden zum Umgang mit besonderen Vorkommnissen
Praxisorientierte Handreichung der Stiftung Kinderheim Harkerode
1. Präambel
Die Stiftung Kinderheim Harkerode ist anerkannter Freier Träger der Jugendhilfe (§ 75 SGB VIII) und Leistungserbringer nach §§ 2, Abs. 2, 2., 4., und 6. des Sozialgesetzbuchs Achtes Buch – Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII). Die Stiftung unterliegt den Regeln des Bundeskinderschutzgesetzes (BKiSchG).
Mit der Aufnahme ihrer Tätigkeit am 1. Januar 2017 hat sich die Stiftung verpflichtet, auf der Grundlage des Bundeskinderschutzgesetzes einen Handlungsleitfaden für den Umgang mit besonderen Vorkommnissen zu entwickeln und in ihrer praktischen Arbeit einzusetzen. Das Gesetz definiert für diese Aufgabe eine Reihe von rechtlichen Eckpunkten. Sie betreffen insbesondere die folgenden Bereiche:
• Schutz des Kindes vor körperlicher, geistiger und seelischer Gewalt (das Erkennen von Gewalt, angemessenes Reagieren und Agieren, das Beratungsrecht)
• Schutz durch die staatliche Gemeinschaft (das Zusammenspiel des Wächteramtes mit den Trägern der Freien Jugendhilfe)
• Früherkennung von Gefahrensituationen (objektive und subjektive Faktoren)
• Koordinierung und Vernetzung professioneller Hilfen (interne und externe Netzwerkstrukturen)
• Besonderheiten des § 3, Abs. 2 des Gesetzes zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG), hinsichtlich der Zusammenarbeit mit Ämtern, Behörden und Beratungsstellen
• Beachtung der §§ 3 und 8 Schwangerschaftskonfliktgesetz (SchKG)
• Beratung und Übermittlung von Informationen bei Kindeswohlgefährdung nach § 4 KKG (Abs. 1, 6., Abs. 2 Beratungsrecht, Befugnisse nach Abs. 3).
Mit dem rechtlichen Rahmen verfolgt der Gesetzgeber die Absicht, dafür Sorge zu tragen, dass Gefahrensituationen früher erkannt und erfasst werden und entsprechende Abhilfemaßnahmen getroffen werden können. Kinder und Jugendlichen sollen vor Gefahren und Risiken für ihr leibliches, geistiges und seelisches Wohl geschützt werden.
Der hier vorliegende Handlungsleitfaden reflektiert diese Intentionen. Er basiert auf den Bestimmungen des Ausführungsgesetzes zum Kinder- und Jugendhilfegesetz des Landes Sachsen-Anhalt (AG KJHG LSA), sowie auf der Grundsatzvereinbarung der Stiftung Kinderheim Harkerode mit dem örtlichen Träger der Jugendhilfe. Dabei berücksichtigt er neben dem mit dem KJHG LSA vergebenen rechtlichen Rahmen insbesondere die Empfehlungen des Leitfadens für Lehrerinnen und Lehrer, Erzieherinnen und Erzieher in Sachsen-Anhalt zu Früherkennung, Handlungsmöglichkeiten und Kooperation.
2. Ziel, Hintergrund und Verständnis des Handlungsleitfadens
Der Handlungsleitfaden bietet den Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Stiftung Kinderheim Harkerode, die in den Bereichen der Jugendarbeit und Jugendsozialarbeit, dem Kinder- und Jugendschutz, sowie in der ambulanten und stationären Erziehungshilfe tätig sind, eine praktische Orientierung für ein sachgerechtes Verhalten bei besonderen Vorkommnissen.
Der Begriff besondere Vorkommnisse bezeichnet in diesem Zusammenhang insbesondere Fälle von Gewalt gegen Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, die in den Einrichtungen und im Rahmen der Dienste der Stiftung Kinderheim Harkerode betreut werden. Darüber hinaus schließt der Begriff die Covid-19 Pandemie ein.
Die Stiftung definiert Gewalt als gewaltsame körperliche und/oder seelische Schädigungen, die zu Verletzungen und Entwicklungsverzögerungen führen können, und die somit das Wohl und die Rechte eines jungen Menschen beeinträchtigen oder bedrohen. Zentrale Fragen sind: Wie erkenne ich als Mitarbeiterin oder Mitarbeiter der Stiftung Kinderheim Harkerode solche besonderen Vorkommnisse? Welche Schritte unternehme ich, um auf die Abstellung und gegebenenfalls Aufklärung der Vorkommnisse hinzuwirken? Was unternehme ich, um die Vorkommnisse und die Abstellung und Aufklärung unternommenen Handlungen zu dokumentieren? Und schließlich: welche Maßnahmen sind gegebenenfalls für ein ordnungsgemäßes, internes und externes Beschwerdemanagement zu ergreifen?
Die im Folgenden zusammengefassten Verfahren sind eine für die Mitarbeiter verbindliche Grundlagen ihrer Arbeit. Prävention und Früherkennung, Transparenz, Dokumentation und Gefahrenbeseitigung sowie das Beschwerdemanagement sind die wichtigsten Themen des Handlungsleitfadens.
2.1. Besondere Vorkommnisse
2.1.1. Schwere Unfälle (einschließlich Unfälle mit Lebensgefahr)
• Eventuell „Erste Hilfe“- Versorgung
• Information an Rettungsdienst (Notruf: 112),
• Information an päd. Leitung
2.1.2. Misshandlungen, sexueller Missbrauch, Sittlichkeitsdelikte
• Information an päd. Leitung, ggf. bei unmittelbarer Gesundheitsschädigung:
• Rettungsdienst (Notruf: 112) und Polizei (Notruf: 110)
• Gegebenenfalls: Erste Hilfe- Versorgung
2.1.3. Körperliche Übergriffe, körperliche Gewalt gegen Mitarbeiter
• Bei akuter Gefahrensituation, die von dem Mitarbeiter allein nicht zu bewältigen ist: Notruf wählen (Polizei: 110), päd. Leitung hinzuziehen
• Gegebenenfalls Unterstützung durch einen zusätzlichen Kollegen anfordern
• Verdacht auf akuten Drogenmissbrauch
• Päd. Leitung informieren
• Polizei einbeziehen
• Sicherung des Verzichts des/der Jugendlichen auf weiteren Drogenkonsum (ggf. ärztliche Aufsicht organisieren)
2.1.4. Entführungsversuch, Entführung
• Information an Polizei (Notruf: 110),
• Information an päd. Leitung
2.1.5. Feuer, Explosion, katastrophenähnliche Ereignisse, die eine anderweitige Unterbringung einer einzelnen oder mehrerer betreuter Personen erforderlich machen
• Evakuierung der Einrichtung
• Information an Rettungsdienst (Notruf: 112), Feuerwehr (Notruf: 112), Polizei (Notruf: 110)
• Information Stiftungsleitung
2.1.6. Extrem besorgniserregende Erkrankungen/Covid-19 Pandemie
• Information an Geschäftsleitung/Pandemiebeauftragten, die bei einem Infektionsgeschehen alle Maßnahmen koordinieren und Ansprechpartner für die Behörden sind
• Bei lebensbedrohlichen Symptomen Rettungsdienst rufen (Notruf: 112)
• Bei keinen lebensbedrohlichen Symptomen den Kassenärztlichen Bereitschaftsdienst anrufen ( 116 117)
• Meldepflichtige Erkrankungen dem Gesundheitsamt des Landkreises Mansfeld-Südharz melden
2.1.7. Tod, Freitod oder Freitodversuch
• Sofortige Information an Rettungsdienst (Notruf: 112) und Polizei (Notruf: 110)
• Information an die Geschäftsleitung
2.2. Prävention und Früherkennung
Die Präventionsmaßnahmen der Stiftung Kinderheim Harkerode stehen im Einklang mit den Empfehlungen des Deutschen Bundesjugendring und – im Hinblick auf die Covid-19 Pandemie – den Eindämmungsverordnungen des Landes Sachsen-Anhalt. Sie umfassen folgende, wesentliche Maßnahmen:
• Systematische Sensibilisierung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter durch die Stiftungsleitung für die Problematik der besonderen Vorkommnisse durch Information und Qualifizierung.
• Verbindliche Aufnahme des Themenfeldes in die Aus- und Fortbildung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
• Schaffung von strukturellen Rahmenbedingungen, die Übergriffe auf die betreuten jungen Menschen verhindern beziehungsweise die Übergriffe schnellstmöglich aufdecken und abstellen
• Schaffung von strukturellen Rahmenbedingungen für den Umgang mit Covid-19 Erkrankungsfällen (Hygiene, Vorbereitung auf Isolation). – Bei Verdacht auf eine übertragbare Erkrankung müssen Präventions- und Schutzmaßnahmen eingeleitet werden. Sollte in einer Einrichtung eine Covid-19-Infektion auftreten, sind die betroffenen Bewohner umgehend zu isolieren und/oder Erkrankte in Krankenhäuser oder andere Einrichtungen zu verlegen.
• Entwicklung von allgemeingültigen Verhaltensregeln und –normen durch die Wohnbereichsleiter und die Geschäftsleitung
• Mitarbeiterbelehrung, Befragung, Selbstverpflichtungserklärungen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als Teil des Arbeitsvertrages
• Nominierung von strukturell verankerten Vertrauenspersonen als Ansprechpartner/innen und Zuständige.
Die Beobachtung von Auffälligkeiten im Alltag des Kindes können Anhaltspunkte für mögliche körperliche und/oder seelische Schädigungen geben. Spezifische Beobachtungen sind sorgfältig zu dokumentieren, um verwertbare Unterlagen für die Prävention und Früherkennung zu schaffen.
Der Leitfaden für Lehrerinnen und Lehrer, Erzieherinnen und Erzieher in Sachsen-Anhalt zu Früherkennung, Handlungsmöglichkeiten und Kooperation enthält als Anhang 2 eine nützliche Dokumentationshilfe für den eigenen Gebrauch.
2.3. Transparenz, Dokumentation, Gefahrenbeseitigung
Fragen des Kinderschutzes sind personengebunden in die Hilfeplan-Gespräche und Entwicklungsberichte aufzunehmen. Die Erzieherinnen und Erzieher der Stiftung Kinderheim Harkerode sind verpflichtet, am Evaluationsverfahren zum Kinderschutz teilzunehmen. Evaluationen führt der/die Kinderschutzbeauftragte der Stiftung durch.
Der sachgerechte Umgang mit Fragen der Kindeswohlgefährdungen erfordert eine besondere, schriftliche Dokumentation. Sowohl aus fachlicher Verantwortung als auch zum eigenen Schutz im Falle einer justiziellen Aufarbeitung eines Falles ist es notwendig, alle entscheidungsrelevanten Anhaltspunkte schriftlich und nachvollziehbar zu dokumentieren. Die Erzieherinnen und Erzieher verpflichten sich, eine entsprechende qualifizierte Dokumentation (Berichtswesen) zu fertigen.
2.4. Beschwerdemanagement
Das Mitwirkungs- und Beschwerdemanagement der Stiftung Kinderheim Harkerode ist prozesshaft gestaltet, wobei die Aufsicht über den Prozessverlauf vom Verlauf selbst zu trennen ist. Grundsätzlich sind alle am System Beteiligten in das Management einzubeziehen. Es gelten die rechtlichen Vorgaben des § 8a SGB VIII.
Sensibilität für den Kinderschutz im Zusammenhang mit dem alltäglichen Umgang, den Maßnahmen und Zielen hat absoluten Vorrang. Mitwirkung bei der Betreuung und Selbstbestimmung der betreuten, jungen Menschen sind fachliche Kernelemente der Jugendarbeit. Inhaltlich sind in das System des Beschwerdemanagements die folgenden Aspekte einzubinden:
• Die Grundhaltung der Erziehenden in ihrer Persönlichkeit und Fachlichkeit, Berufung, sowie ihrem Verständnis von Demokratie und Kinderschutz
• Besonderheiten hinsichtlich der Strukturen der Erziehungs- und Arbeitsbereiche sowie Ziele der Erziehung und Zielgruppe (Altersstruktur und Dynamik)
• Vorhandene und zu modifizierende Regeln und Normen der Arbeitsbereiche (Gruppen- und Hausordnung)
• Beteiligungen externer Beobachter/Hilfeplan-Beteiligter.
Im Rahmen des Mitwirkungs- und Beschwerdemanagements wird den betreuten, jungen Menschen die Möglichkeit gegeben, sich an Vertrauenspersonen innerhalb und außerhalb der Stiftung Kinderheim Harkerode zu wenden. Sollten aus ihrer Sicht Missstände oder Unregelmäßigkeiten bestehen, können diese ohne Probleme angesprochen werden. Gleichzeitig erhalten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Stiftung die Möglichkeit, sich an Vertrauens- oder/und Kinderschutzbeauftragte zu wenden.
3. Verantwortungsbereiche, praktische Umsetzung
Zur praktischen Umsetzung des Handlungsleitfaden hat die Stiftung Kinderheim Harkerode folgende Verantwortungsbereiche festgelegt:
3.1.
Wohnbereichsleiter und Kinderschutzbeauftrage sind besonders geeigneten Fachkräfte, die innerhalb ihrer Teams als fachlich kompetente Ansprechpartner fungieren. Gleichzeitig stellen sie den Schutz der jungen Menschen professionell und organisatorisch sicher. Im Falle einer sich anbahnenden oder eingetretenen Verletzung von Kindeswohl leiten sie die notwendigen Maßnahmen unverzüglich und setzen die Einrichtungsleitung in Kenntnis.
Wohnbereichsleiter und Kinderschutzbeauftrage sind berechtigt
• In Abwesenheit der Einrichtungsleitung
• Bei versäumter Reaktion der Einrichtungsleitung oder
• Bei zu erwartender Missachtung der Hinweise auf sich anbahnende oder eingetretene Verletzung von Kindeswohl
den Stiftungsvorstand, das Landesverwaltungsamt oder/und den Träger der örtlichen Jugendhilfe über Unregelmäßigkeiten oder besondere Vorkommnisse zu informieren.
3.2. Mitarbeiter im Fachdienst
Mitarbeiter im Fachdienst sind alle Kollegen in Wohnbereichen und Diensten, die einen anerkannten Abschluss entsprechend der Anerkennung als sozialpädagogische Fachkraft besitzen. Sie verfügen über umfassende Kenntnis der Grundsätze des Kinderschutzes. Darüber hinaus sind sie mit den Verfahrensweisen für besondere Vorkommnisse vertraut, die in diesem Leitfaden festgelegt sind und die sich aus BKiSchG und KKG ergeben.
Neben der regulären Erziehungsarbeit sind sie in der Lage
• Auffälligkeiten zu erkennen, Gegenmaßnahmen einzuleiten und über Umfang und Intensität der Auffälligkeiten zu informieren,
• Gefahrlagen zu vermeiden, zu verhindern und abzubauen
• Generell präventiv tätig zu sein sowie
• An der Organisation und Durchführung des Beschwerdemanagements auf konstruktive Weise mitzuwirken.
Zugleich sind sie wegen ihrer besonderen Nähe und Vertrauensstellung zu den betreuten Kindern und Jugendlichen in einer besonderen Verpflichtung, was deren Einbezug in Prävention und Abwehrmaßnahmen anlangt.
3.3. Sonstige Mitarbeiter und Honorarkräfte
Bei sonstigen Mitarbeitern und Honorarkräften, die in der Regel keinen pädagogischen Abschluss besitzen, ist davon auszugehen, dass sie Sensibilität des Themas Kinderschutz kennen. Entsprechend ihrem Einsatzgebiet sind sie in den Prozess der Umsetzung des Leitfadens einzubinden. Sie nehmen an relevanten Teamberatungen und/oder in Gesprächen mit Fachkräften teil.
4. Schlussbemerkungen, weiterführende Hinweise
Die Leitung der Stiftung Kinderheim Harkerode zeichnet für Anleitung der Teams und Fortschreibung des Leitfadens verantwortlich. Die Teams beraten einen Maßnahme-Katalog wohnbereichsintern. Er ist auf die Bedingungen des Hauses, das Alter der Kinder und das pädagogische Konzept angepasst. Seine Anwendung wird regelmäßig praktisch geübt.
Der Leitfaden wird im Dialog mit den Mitarbeitern der Stiftung Kinderheim Harkerode fortgeschrieben; er wird dabei den Bedingungen in den einzelnen Leistungsbereichen angepasst. Maßnahmen zum Brandschutz wurden mit dem zuständigen Amt abgesprochen
Eine laufende Abstimmung mit dem Jugendamt Mansfeld-Südharz und anderen relevanten, externen Institutionen ist angestrebt. Die Familienberatungsstelle, Hebammen und der soziale Dienst des Jugendamtes werden in die Fortschreibungen einbezogen.
Die Stiftung organisiert weitergehende externe und interne Fortbildungen zu den im Handlungsleitfaden behandelten Themen.
Harkerode, den 7. August 2020
Torsten Fricke
Vorstandsvorsitzender
Stiftung Kinderheim Harkerode